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Aus: Soziale Politik & Demokratie Nr. 284 | 18. September 2012 | Seite 3 | Zur Diskussion

Bundesverfassungsgericht erfüllt die Erwartungen der Finanzmärkte…

„Das Bundesverfassungsgericht hat seine Urteile zum Euro komplett revidiert. Bisher haben die Richter die nationale Souveränität verteidigt - diese hat sich mit dem ESM-Spruch erledigt“, kommentiert W. Münchau in Spiegel online vom 12. 9. 2012 das Urteil.

Noch in seinem Urteil zum Maastrichter Vertrag von 1993 betonte das Gericht, dass die Souveränität der EU-Mitgliedstaaten nicht teilbar sei. Die Grundprinzipien des Grundgesetzes, Demokratie und Sozialstaatsgebot, dürften nicht verletzt werden. In der mit dem Maastrichter Vertrag erfolgten Grundgesetzänderung von 1992 ist festgeschrieben: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen (…) verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“ (Art. 23, 1).

Das Gericht verlangt mit dem Maastricht-Urteil noch die Respektierung der unantastbaren Verfassungsgrundsätze auch wenn es sich dann auf eine protestierende Begleitung des Vertrages beschränkt. D.h. es lässt einen Vertrag passieren, der die Haushaltsrechte der nationalen Parlamente drastisch einschränkt; der– u.a. über eine Unzahl von Richtlinien, die in nationales Recht umzusetzen sind – den Mitgliedsstaaten im Namen des Schulden- und Defizitabbaus und des „uneingeschränkten freien Wettbewerbs“ einen weitreichenden Sozialabbau diktiert, die Privatisierung des Öffentlichen Dienstes und der Daseinsvorsorge und im Namen der Senkung der Arbeitskosten die Deregulierung der Arbeitnehmerschutzrechte und des gewerkschaftlichen Tarifvertragssystems.

In seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag 2009 pocht das Bundesverfassungsgericht erneut darauf, dass der europäische Einigungsprozess nicht dazu führen darf, dass das System der politischen Demokratie, der parlamentarischen Demokratie ausgehöhlt wird. Die Verfassungsidentität, d.h. für das Gericht das Demokratieprinzip, die Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie die Grundrechte müssten gewahrt bleiben. Die Verfassungsrichter lassen dennoch auch den Lissabon-Vertrag passieren, der die von den EU-Institutionen diktierte antisoziale und antidemokratische Politik des Maastrichter Vertrages fortschreibt

Mit seinem – von einem kraftlosen Aber begleiteten – Ja zu ESM und Fiskalpakt gibt das Gericht jetzt europäischen Verträgen seinen Segen, die die Souveränität der Völker negieren und die unantastbaren Grundsätze des Grundgesetzes, das Demokratie- und Sozialstaatsgebot aushebeln, um die EU- Institutionen mit diktatorischen Vollmachten auszustatten.

Den als „zentralisierte Exekutivgewalt verselbständigten EU-Institutionen“ werden immer weitergehende Durchgriffsrechte auf die nationalen Haushalte, auf die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zugebilligt. Unter dem strikt einzuhaltenden Gebot des Schulden- und Defizitabbaus wird der Zwang zu weiteren harten Sparprogrammen, Privatisierungen und Deregulierungen der Arbeitsverhältnisse institutionalisiert.

Zum Fiskalvertrag stellen die Richter fest, dass sich die für alle Länder geforderte und auf ewig in den Verfassungsgesetzgebungen zu verankernde Schuldenbremse in Deutschland mit der schon ins Grundgesetz hineinmanipulierten Schuldenbremse decke. Sie unterstreichen mit ihrem letzten Urteil noch einmal ausdrücklich die Verfassungsmäßigkeit der Schuldenbremse und ihrer Verschärfung durch den Fiskalpakt. Damit revidieren sie ebenso ausdrücklich alle ihre bisherigen Urteile, denn die Schuldenbremse lässt keinen Platz für die politische Demokratie, für freie politische Entscheidungen, die dem Sozialstaatsgebot verpflichtet sind, für freies Handeln und Verhandlungen der Gewerkschaften für die demokratischen und sozialen Forderungen der arbeitende Bevölkerung und Jugend.

Die Richter haben sich der „Staatsräson gebeugt“, dem massiven politischen Druck der Bundesregierung und der EU-Institutionen, begleitet von panischen Warnungen, das Vertrauen der Finanzmärkte nicht zu gefährden.

„Die Märkte jubeln“, ist im Handelsblatt zu lesen, der Dax zieht kurz nach der Urteilsverkündung um fast 100 Punkte an. Die Milliarden-Flutung für die Banken und Finanzinvestoren, bezahlt durch die schamlose Plünderung der öffentlichen Haushalte, durch den brutalen Sozialkahlschlag gegen die Völker, kann fortgesetzt werden.

„Das ist ein guter Tag für Deutschland, und das ist ein guter Tag für Europa“, kommentiert Bundeskanzlerin Merkel den Richterspruch. Ein erleichtertes Aufatmen auch in der SPD-Führung. Der SPD-Fraktionsvorsitzender Steinmeier lobt das Urteil als gutes Signal für Europa.

Doch 73 % der deutschen Bürger treibt die Angst, dass sie die Zeche für die Euro-Schuldenkrise, bezahlen müssen, für die Milliarden an die Banken und Spekulanten. Angesichts der auch „offenen Wut (der Bürger) über die eigene Ohnmacht“ (Bofinger u.a.), mehren sich heuchlerische Stimmen, von Schäuble, der SPD-Führung bis zu den Linken, die nun eine demokratische Legitimation dieser europäischen Politik, die „mehr Demokratie für Europa“ und einen „europäischen Sozialvertrag“ von einem „politischen Kurswechsel“ durch die Bundestagswahlen 2013 fordern, um stillschweigend ESM und Fiskalpakt zu akzeptieren, die der Demokratie und dem Sozialstaat gerade den Garaus machen sollen.

Muss man nicht vielmehr - und in Anlehnung zu der Position der Gewerkschaft: „Der beste Wachstumspakt ist die Nichtratifizierung des Fiskalpaktes“ - fordern: Die beste – und dringlich notwendige - Verteidigung der Demokratie und des Sozialstaats ist die Aufhebung von ESM und Fiskalpakt?

Im Rahmen der europäischen Krisenpolitik und von ESM und Fiskalpakt können die sozialen und demokratischen Forderungen der Gesellschaft nicht erfüllt werden, kann man nicht kämpfen für die Verteidigung und Rückeroberung der Demokratie und des Sozialstaates, für soziale Sicherungssysteme, die einen wirklichen Schutz vor Armut im Alter und Arbeitslosigkeit bieten, für das Recht auf Bildung, für verantwortliche Gesundheitsvorsorge, für die Befreiung der Kommunen und Länder von dem Diktat der Schuldenbremse, des Kaputtsparens.

Deshalb schlägt die Initiative „Nein zu ESM und Fiskalpakt“ vor, die Kampagne gegen die Umsetzung, für die Aufkündigung der Verträge verstärkt fortzuführen -

Und sie schlagen vor, eine Nationale Versammlung der Kräfte dieses Kampfes für die Verteidigung und Rückeroberung der Demokratie und sozialstaatlichen Errungenschaften zu organisieren.

Carla Boulboullé


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