„Rumpeleien“ Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Dezember habe ich mich auf dem Berliner Landesparteitag der SPD mit einem Beitrag zu Wort gemeldet und gefordert, dass Schröder gehen muss, um das Land vor dem sozialen Verfall zu bewahren und die SPD zu retten. Gewiss traf das manche GenossInnen wie ein Schock, von anderen habe ich Zustimmung erhalten. „Auf gutem Wege Deutschland 2010“ das wurde jetzt auf der Klausurtagung des SPD-Parteivorstandes am 10. Januar 05 in Weimar von Gerhard Schröder und Franz Müntefering als programmatische Orientierung der SPD und der Regierung ausgegeben. „Deutschland auf gutem Weg?“ wenn mit der „Arbeitsmarkt„reform“ viele Arbeitnehmer und ihre Familien in die Armut getrieben werden oder ihre Wohnungen zwangsweise räumen müssen? Wer kann in dem Deutschland der Agenda 2010 noch das Deutschland wiedererkennen, das die ArbeitnehmerInnen, SozialdemokratInnen und GewerkschafterInnen nach 1945 wieder aufgebaut haben, mit hohen sozialen und demokratischen Errungenschaften, die nach 1989 Grundlage für das vereinte Deutschland werden sollten. Schröders Agenda 2010 verändert dieses Land bis zur Unkenntlichkeit: ein Land, in dem die Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung ihr höchstes Niveau erreicht hat; in dem täglich neue Meldungen zu hören sind über Arbeitsplatzvernichtungen in der Industrie, über Stellenabbau im öffentlichen Dienst, über das Aufbrechen der Tarifverträge und über Lohnraub bei den arbeitenden Menschen. Wie sieht Deutschland seit dem 1. 1. 2005 für die Arbeitslosen aus, die gar keine Leistung mehr bekommen? Für die 600.000 ALG II-Empfänger, die zur „Zwangsarbeit“ in völlig rechtlosen 1-Euro-Jobs ohne Arbeitsvertrag und ohne gewerkschaftliche Rechte verurteilt werden sollen? Für die Jugendlichen, die keine Lehrstelle finden? Einer von ihnen war Rainer Kaufmann, Agraringenieur und seit längerer Zeit arbeitslos. Rainer Kaufmann hat nach 1989 in Thüringen die SPD wieder mit aufgebaut und viel Kraft für den Kampf für eine Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit, und deshalb zuletzt auch für den Kampf gegen Hartz IV, aufgebracht. Im März 2004, auf der AfA-Konferenz in Erfurt, hat er seine persönlichen Unterlagen Franz Müntefering überreicht. Es sind Akten der Anklage gegen Hartz IV. Akten, die ähnlich aussehen wie die von hunderttausenden Arbeitslosen, die durch Schröders „Reform“ in die Rechtlosigkeit und entwürdigende Lebensverhältnisse gestoßen werden. Gemeinsam mit den AfA-Delegierten trat er für den sofortigen Kurswechsel ein. Franz Müntefering hat Rainer Kaufmann nie geantwortet. Kurz nach dem Erhalt des ALG II-Bescheids ist Rainer Kaufmann an einem Herzinfarkt gestorben, mit 56 Jahren. Franz Müntefering, der keine Worte für Rainer Kaufmann gefunden hat, lässt sich nicht lumpen: „Dass es bei einem so großen Projekt (wie der Arbeitsmarkt„reform“) auch die eine oder andere ‘Rumpelei‘ gibt es wäre seltsam, wenn das nicht so wäre“, erklärte er. Das Schicksal Rainer Kaufmanns, die drohende Verelendung Hunderttausender, die keinen Ausweg mehr sehen „Rumpeleien“? 100.000 Jugendliche in „Arbeitsgelegenheiten“ gepfercht, ohne Recht auf freie Berufswahl oder Berufsausbildung „Rumpeleien“? 4.000 Brandenburger, die keine Krankenversicherung mehr haben, weil sie wegen der Anrechnung aus dem ALG II fallen 130.000 sollen es in Deutschland sein „Rumpeleien“? 3.000 Menschen in der Uckermark wurden „vorsorglich“ aufgefordert, „sich umgehend spätestens innerhalb einer Frist von 6 Monaten (…) um für sie angemessenen Wohnraum zu bemühen“. So sieht es auch der Berliner SPD-Senator Sarrazin. „Auf gutem Weg Deutschland 2010“? „Auf gutem Weg Deutschland 2010“? Habe ich übertrieben, als ich darauf hingewiesen habe, dass die 1-Euro-Jobs, zu der vor allem Jugendliche schon ab 15 Jahren herangezogen werden sollen, an den durch die Notverordnungen geschaffenen „freiwilligen Arbeitsdienst“ am Ende der Weimarer Republik 1931 erinnern? Ein unmittelbar Betroffener der über 3,5 Mio. Langzeitarbeitslosen aus Sachsen schreibt, dass er nach der Anrechnung des Niedriglohns seiner Ehepartnerin von 640 Euro Netto noch etwa 65 Euro monatliches ALG II erhält. „Es versteht sich von selbst, dass man davon nicht mehr zum Arzt gehen kann, wenn es erforderlich ist. Bus und Bahn sind auch nicht mehr zu bezahlen.“ Muss es nicht jeden Sozialdemokraten im tiefsten Inneren aufrütteln, dass die Politik Gerhard Schröders im Namen der SPD verantwortlich dafür ist, dass in Sachsen die Rechtsradikalen, die schamlos die wachsenden sozialen Ängste ausnutzen, mehr Stimmen erhalten als die SPD? Agenda 2010 verändert Deutschland bis zur Unkenntlichkeit Von 120 Schülern der diesjährigen Abgangsklasse einer Berliner Realschule hat bisher ein (!) Schüler eine Lehrstellenzusage. Sind die anderen 119 Teil der 16.000 Jugendlichen in Berlin, die in Jobs ohne Chancen auf einen Ausbildungsabschluss gepresst werden? Haben sie eine andere Zukunftserwartung als die, sich als Billiglöhner zu verdingen? In der öffentlichen Verwaltung Berlins sollen bis 2006 flächendeckend massiv Stellen ausradiert werden. Allein in einem Bezirk sollen bis Ende 2005 von jetzt über 3.000 Stellen 2.000 verschwinden. Wowereit, gestützt auf Wolf (PDS), spricht im Namen der SPD den Beschäftigten im öffentlichen Dienst das Recht auf Lohn und Tarifvertrag ab. Jetzt sind es die KollegInnen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), die auf 8-12% ihres Lohns verzichten sollen. Mit der Privatisierung der Kitas, Schulen und Universitäten, der Krankenhäuser, werden die Lebensgrundlagen der Menschen, die öffentliche Daseinsvorsorge, die soziale Infrastruktur in Land und Kommune zerstört. Weil mehrere zehntausend Anträge von Sozialhilfeempfängern wegen der Einführung von Hartz IV bei den Berliner Sozialämtern liegen geblieben sind, ihre jetzige Auszahlung aber den öffentlichen Haushalt Millionen kosten würde, schlägt Sarrazin die Ablehnung aller sog. Alt-Anträge vor eine kaltblütige Demütigung für die notleidenden Menschen, die von Schröder schon einmal zu Schmarotzern erklärt wurden. Urteile ich zu hart, wenn ich sage, dass Wowereit und Sarrazin, denen das Verdienst zukommt, in Berlin Schröders „Reform“politik mit unerbittlicher Härte umzusetzen, die Würde des Menschen, den Wert ihrer Arbeitskraft, ihre Lebensqualität missachten, dass sie Berlin dem sozialen Verfall preisgeben und größten politischen Gefahren ausliefern? Hatte ich mit meiner Feststellung auf dem Parteitag unrecht, dass sie, wenn sie den radikalen sofortigen Kurswechsel verweigern, keinen Platz in der SPD haben und kein Recht, weiter in ihrem Namen zu handeln? Als langjährig engagierter Sozialdemokrat frage ich Euch, ist nicht das Schicksal der Millionen der unter den Auswirkungen der Agenda 2010 leidenden Menschen und der Hunderttausenden von Hartz IV Betroffenen, die ihre soziale Existenz verlieren, eine Anklage gegen die Politik Schröders, die der Mehrheit des deutschen Volkes den sozialen Krieg erklärt? Alles nur „Rumpelei“ „Auf gutem Weg Deutschland 2010“? Empfinde ich falsch, wenn ich darin nichts als eine Verhöhnung der betroffenen Menschen sehen kann, eine Verhöhnung auch der gemeinsamen Kampftradition der SPD und der Gewerkschaften für die sozialen und demokratischen Errungenschaften, für soziale Gerechtigkeit? Das alles soll nun von Schröders „Reform“politik zertrümmert werden im Namen der SPD? Am unerträglichsten ist die von Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Wolfgang Clement gepredigte Position, diese Entwicklung sei unabwendbar. Damit sollen die SPD und Gewerkschaften, die deutsche Arbeiterbewegung in die Selbstaufgabe getrieben werden. Die Partei will Schröders Reformen nicht Unabwendbar dieser Sturz in den politischen und sozialen Verfall Deutschlands? Unabwendbar, dass die SPD, die Gewerkschaften, die deutsche Arbeiterbewegung einer furchtbaren Niederlage ausgeliefert werden? Das kann und will ich nicht akzeptieren. Alle sozialdemokratischen GenossInnen und GewerkschafterInnen können dagegen nur ihre Stimme erheben. So ist auch der Berliner SPD-Parteitag zum Signal dafür geworden, dass die Partei Schröders „Reform“ nicht will! Auf dem Parteitag bin ich für die sofortige Einberufung eines a.o. SPD-Bundesparteitags eingetreten, der wirklich mit Schröder bricht. Um diesen zerstörerischen Irrweg zu stoppen, muss Schröder weg. Ich weiß, wie schwer es vielen SPD-Mitgliedern und Ausgetretenen gemacht wird, den Kampf für den a.o. Parteitag aufzunehmen und in und mit der SPD das Ruder rumzureissen. Doch ich vertraue darauf, dass die Millionen gewerkschaftlichen KollegInnen und SozialdemokratInnen, dass die deutsche Arbeiterschaft noch nicht das letzte Wort gesprochen haben; dass sie fähig sind, eine Wende herbeizuführen. Dafür werde ich mit meinen ganzen Kräften meinen Beitrag leisten. Euer Gotthard Krupp Berlin, 19. 1. 05
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