Aufruf für ein gemeinsames Handeln gegen die „Europäische Verfassung“

Der Entwurf für die Europäische Verfassung ist unvereinbar mit der Demokratie

Er zielt darauf, jede Sozialpolitik in unseren Ländern unmöglich zu machen

Von Jahr zu Jahr können wir in unseren Ländern feststellen, dass die von der Europäischen Union vorangetriebene Politik, die die Verträge, und besonders den Maastrichter Vertrag, sowie die von der EU-Kommission diktierten Richtlinien und politischen Maßnahmen umsetzt, zunehmend unsere sozialen Rechte zerstört, unsere öffentlichen Dienste und sogar unsere demokratischen Rechte abbaut.

Von den Maßnahmen gegen die Arbeitslosen bis hin zur Zerstörung des einheitlichen Besoldungs- und Dienstrechts, von der Demontage des sozialen Sicherungssystems bis hin zur drohenden Auslieferung des öffentlichen Dienstes und der öffentlichen Daseinsvorsorge an die Privatisierung, werden tatsächlich überall unter dem Druck der Europäischen Union alle Errungenschaften des sogenannten Sozialstaats in Frage gestellt. Und das gilt sowohl für die Länder, die bereits EU-Mitglieder sind, als auch für die, die am 1. Mai 2004 neue Mitglieder geworden sind.

Die gleiche Entwicklung trifft alle anderen europäischen Ländern, die keine EU-Mitglieder sind, ob sie nun Beitrittskandidaten sind oder nicht: dort werden selbst die geringsten sozialen Garantien bedroht oder zerstört, weil sämtliche Regierungen sich auf die Liberalisierungspolitik der Europäischen Union stützen, um sie im eigenen Land durchzusetzen. Das sieht man z.B. gegenwärtig in Russland, wo die Rechte der Mieter in Verbindung mit dem öffentlichen Wohnungsbestand angegriffen werden.

Im Zuge der EU-Erweiterung erleben wir eine Beschleunigung dieser Politik der sozialen Zerstörung. Das trifft z.B. für den Richtlinienentwurf von Bolkestein für die Dienstleistungen im Binnenmarkt zu. Er würde es einem Dienstleistungsunternehmen ermöglichen, sich allen Normen und Regulierungen in anderen Ländern, wo es Filialen aufbaut, zu entziehen. Man erlebt, wie bewusst die Konkurrenz zwischen den ArbeitnehmerInnen in ganz Europa politisch geschürt werden soll. Das soll überall dazu führen, dass Arbeitsplätze vernichtet werden, dass die sozialen Errungenschaften und öffentlichen Dienste zerstört werden, zum größten Schaden aller ArbeitnehmerInnen,  egal ob sie nun in den Ländern leben, die „alte“ oder die „neue“ Mitglieder der Europäischen Union sind.

Die Verfassung, die die Europäische Union sich geben will, stellt eine zusätzliche Gefahr für unsere Rechte, unsere demokratischen Freiheiten und die Souveränität der Nationen dar

 Hier nennen wir einige Beispiele von vielen anderen:

  • Die Europäische Verfassung würde die Aufhebung schon gültiger antisozialer Verträge (wie etwa des Maastrichter Vertrages) verhindern, weil sie diese Politik in ihrem Kapitel III integriert und Verfassungsrang gibt.
  • »Der Entwurf für den Verfassungstext löscht buchstäblich den Begriff „Öffentlicher Dienst“ aus dem europäischen Recht. Dieser Begriff, mit dem wir viel verbinden, wird durch „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ ersetzt. (…)

Die „Verfassung“ greift mit dem Begriff „Öffentliche Dienste“ direkt auch deren Existenz an. Die Angriffe gehen in zwei Richtungen:

  1. Der Vertrag erhebt den Wettbewerb zum absoluten Prinzip; das schließt natürlich jedes Monopol aus. Doch die Rentabilität vieler öffentlicher Dienste kann nur durch das staatliche Monopol gesichert werden.
  2. Der Vertrag verbietet ebenfalls alle staatlichen Hilfen, die von Natur aus gegen den Wettbewerb verstoßen.

Dieser doppelte Angriff erwürgt buchstäblich die öffentlichen Dienste, die wir in Belgien und Frankreich kennen.« (Interview mit Jean-Maurice Dehousse, Europaabgeordneter der PS Belgien, der gegen den Entwurf der Europäischen Verfassung gestimmt hat.)

  • Die Europäische Verfassung, die die Europäische Union sich geben will, stellt eine zusätzliche Gefahr für unsere Rechte und unsere demokratischen Freiheiten dar. Sie würde die vorhandenen nationalen Institutionen vollständig der Europäischen Union und deren Institutionen unterordnen. Damit würden tatsächlich die Demokratie und die Souveränität der Völker in Frage gestellt.
  • Im Zuge der EU-Erweiterung erlebt man die beschleunigte Entindustrialisierung (Bergbau, Werften, Stahl- und Autoindustrie, Verkehrsbetriebe). Sie trifft die ArbeitnehmerInnen aller Länder: sowohl der alten, als auch der neuen EU-Mitgliedstaaten.
  • In mehreren europäischen Ländern findet gegenwärtig eine Mobilisierung gegen die Bolkestein-Richtlinie zu den Dienstleistungen statt, die vor allem den öffentlichen Dienst bedroht. Wir stimmen der Meinung des sozialistischen Europaabgeordneten Jean-Maurice Dehousse zu, der sagt: „Unsere bisherigen Initiativen gegen die Bolkestein-Richtlinie haben diese zu einem ‘schwierigen Projekt‘ gemacht: das haben die offiziellen Instanzen zugegeben. Wir müssen also den Kampf fortsetzen und ihn auf den Verfassungsentwurf ausweiten, denn was nutzt es, das Schlangenei zu zerbrechen, wenn die Brutmaschine intakt bleibt.“

Wenn die Europäische Verfassung verabschiedet würde…
würde sie die Entwicklung einer sozialen Politik verhindern

Wenn diese Verfassung von den 25 EU-Mitgliedstaaten ratifiziert würde, würde sie allen schon existierenden Verträgen „Verfassungsrang“ geben. Diese Verträge aber definieren und diktieren die Politik der sozialen Zerstörung, gegen die sich die ArbeitnehmerInnen, die Empfänger von Sozialleistungen und ihre Gewerkschaften mobilisieren. Weil die Europäische Verfassung nur einstimmig von allen EU-Mitgliedstaaten geändert werden kann, würde sie überall die gleiche Politik diktieren: die einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen“ Marktwirtschaft, in deren Namen jeder „Sozialstaat“ zerschlagen und alle sozialen Errungenschaften geopfert werden müssten. Damit wird die Demokratie in Frage gestellt, weil die angebliche „Verfassung“ von nun an jede politische Alternative und jede Sozialpolitik verhindern würde.

Wenn dieser Entwurf für einen „Verfassungsvertrag“ vom kommenden EU-Gipfel* verabschiedet wird, stellt er eine direkte Gefahr für die sozialen Rechte und für die Gewerkschaften dar, deren Existenz mit diesen Rechten verknüpft ist.

Wir sind der Meinung, dass die Verabschiedung des „Verfassungsvertrags“ durch den EU-Gipfel sofort die Mobilisierung gegen diese sog. „Verfassung“ in ganz Europa auf die Tagesordnung setzt, – gegen die Ratifizierung dieser „Verfassung“ durch die EU-Mitgliedstaaten.

Der „Verfassungsvertrag“ ist ein Instrument zu Gunsten der Unternehmer und multinationalen Konzerne, gegen die Arbeitnehmerrechte. Er bedeutet eine wesentliche Verschlechterung und Verschärfung dessen, was bis jetzt schon im Maastrichter Vertrag und den europäischen Richtlinien enthalten war. Deshalb ist die größte Einheit aller gewerkschaftlichen wie politischen Arbeitnehmerorganisationen in ganz Europa notwendig, um ihn zu bekämpfen und seine Ratifizierung zu verhindern. Es geht um eine historische Entscheidung. Dabei stehen alle Errungenschaften auf dem Spiel, die die Existenz der Arbeiterschaft sichern und ihr ermöglichen, den Kindern eine Zukunft zu geben. Auf dem Spiel steht die Demokratie.

Wir rufen dazu auf, unter den ArbeitnehmerInnen und ihren Organisationen eine wirklich breite Kampagne zu entwickeln. Es geht darum, den Inhalt dieses zerstörerischen „Verfassungsentwurfs“ zu erläutern, damit der Kampf für das NEIN zur Europäischen „Verfassung“ begonnen werden kann.

 (*) gemeint ist der EU-Gipfel, der jetzt am 18./19. Juni 04 stattgefunden und sich auf den Verfassungsvertrag geeinigt hat.

Der Aufruf wurde verbreitet anläßlich einer europäischen Konferenz am 12. Juni 2004 in Genf, die auf Initiative von Mitgliedern und Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und von GewerkschafterInnen stattfand. An dieser Konferenz »Für den Frieden, die Demokratie und die Arbeitnehmerrechte, für das freie und demokratische Bündnis der freien Nationen« nahmen 80 Delegierte aus 14 europäischen Ländern teil.

ErstunterzeichnerInnen:

Belgien: Paul Wattiez, Delegierter des Komitees für das Nein zur Europäischen Verfassung; Henri-Jean Ruttiens, Gewerkschafter; Philippe Larsimont Koordinator der Bewegung für die Verteidigung der ArbeitnehmerInnen; Roberto Giarrocco, Gewerkschafter, ehem. Verantwortlicher der Jungsozialisten im Nationalen Büro der PS - Spanien: Koldo Mendez, Stadtrat der PSE-EE-PSOE in der Biscaya; Jose Manuel Toledo, Stadtrat der PSE-EE-PSOE in der Biscaya; Gumersindo Benitez, Gewerkschaft UGT Transport; Carmelo Pascual, Mitglied der PSE-EE-PSOE von Alava; Roberto Tornamira und Alberto de Miguel, vom Kollektiv für den Arbeitersozialismus, Madrid; Jesus Bejar, Gewerkschaft CCOO, Madrid; Rafael Aguilera, Gewerkschaft UGT, Öffentl. Dienst Barcelona; Rafael Palmer, stellv. Vors. von AEDDEM-Medizinische Praxis, im Namen dieses Verbandes - Guadeloupe: Raymond Gauthierot, im Namen des Gewerkschaftsrates der UGTG - Schweiz: Sylviane Herranz, Journalistin; Michel Gindrat, UCPO; Max Robert, Lehrergewerkschaft; Daniel Hofer, Mitglied der PSS; Alexandre Anor, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei; Catherine Anor, Gewerkschaft SSP; Jacques Robert, Gewerkschafter, Genf; Graziano Pestoni, Abgeordneter der SP Tessin und Gewerkschaftsverantwortlicher der SSP; Francoise Schenk Gottret, Abgeordnete, Genf; Luc Deley, SP-Mitglied, Gewerkschafter, Genf; Rudi Jaussi, Gewerkschafter, SSP, Mitglied der SP, Michel Guillot, Gewerkschafter; Simone Girodo, Gewerkschafterin, Öffentlicher Dienst SSP, Mitglied der SP; Alain Charbonnier, SP-Abgeordneter, Genf - Frankreich: Luc Lamy, Gewerkschaft Transport Paris; Marie-Claude Schidlower, Frauen-Kommission der Internationalen Verbindung der ArbeitnehmerInnen und Völker (IAV); Marie-Edmonde Brunet, Lehrergewerkschaft; Michèle Simonnin, Gewerkschafterin; Didier Zeau, Lehrergewerkschaft; Franck Arnold, Arbeitnehmerpartei PT;
Georges Hoffman, »Réflexions«; Jacques Paris, Lehrergewerkschaft; Gérard Schivardi, Bürgermeister von Mailhac, Conseiller général des Kantons Ginestas (Aude); Francois Grasa, Eisenbahn-Gewerkschafter; Clarisse Delalondre, Gewerkschafter bei EDF; Jean-Charles Marquiset, »Manifest der 500«; Véronique Pépers, Gewerkschafterin; Aimé Savy, Gewerkschafterin und 2. Bürgermeisterin MRC Ivry; Francois Chaintron, Gewerkschafter; Olivier Doriane, IAV; Daniel Gluckstein, Koordinator der IAV; Dominique Vincenot, IAV; Jean-Pierre Barrois, IAV - Ukraine: Vitaly Kulik, Gruppe Borotba; Andrej Mishyn, Gruppe Borotba - Italien: Lorenzo Varaldo, Gewerkschaftsdelegierter UIL-Schule, Turin ; Rita Defeudis, Lehrergewerkschafterin, CISL Schule Magenta Milan; Antonella Chieffa, Gewerkschaftsdelegierte CISL Schule Magenta Milan - Deutschland: H.-W. Schuster, Ver.di, SPD, AfA-UB-Vors., Düsseldorf; Karlheinz Gerhold, Ver.di, AfA-Vors. Halle; Klaus Schüller, SPD, AfA-Landesvorstand, DGB; H. Becker, GEW-Bezirksvorst., Frankfurt/M. - Großbritannien (im eigenen Namen): Stefan Cholewka, Mitglied TGWU, Herausgeber von »The Link«; Charlie Charalambus, lokaler Gewerkschaftsvors. TUC Torbay, Vors. der Sektion TGWU von Devon-Süd; Steve Burke, Mitglied GMB, Jugendverantwortlicher der Sektion der Labour Party von Rochedale; Tony Richardson, Mitglied BFAWU, lokaler Gewerkschaftsvors. TUC Wakefield; Christine Taylor, Mitglied TGWU, Frauenverantwortliche der Sektion der Labour Party von Rochedale - Tschechien: Jan Tesar, Redakteur des Bulletins der IAV - Serbien: Pavlusko Imsirovic, Vereinigung für Arbeitnehmerpolitik; Jacim Milunovic, Gewerkschaft Nezavisnost (Lebensmittel, Agrar, Hotels, Tourismus) - Türkei: Pinar Erol, Flugverkehr-Gewerkschafter.

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